In Tübingen verbrachte Schlatter die letzten vierzig Jahre seines Lebens und erlebte den Höhepunkt seiner Lehrtätigkeit. Anfangs begegneten ihm württembergische Studenten reserviert, doch bald wuchs das Interesse stark – später besuchten bis zu 600 Zuhörer seine Vorlesungen.
Ein tiefer Einschnitt war der frühe Tod seiner Frau (1907). Schlatter sah sich wie nie zuvor vor die Ewigkeit gestellt und gewann den Eindruck, „fertig zu machen, was begonnen ist.“1 In den folgenden sieben Jahren fasste er den bisherigen Ertrag seiner Arbeit in vier großen Bänden zusammen: die zweibändige Neutestamentliche Theologie (Das Wort Jesu, Die Lehre der Apostel) sowie Das christliche Dogma und Die christliche Ethik.
Seine Dogmatik verband biblische Wahrheit und Wirklichkeitserkenntnis in eigenständiger Weise und entfaltet bis heute Tiefenwirkung. Paul Schneider, der 1939 den Märtyrertod erlitt, erlebte unter ihrem Einfluss eine theologische Wende. Schlatters Ethik wurde noch Jahrzehnte später wegen ihrer Modernität empfohlen.
1915 schloss Schlatter die Zusammenfassung seiner Lebensarbeit mit einer Metaphysik ab, die seine philosophischen Grundüberzeugungen darstellt. Trotz Drängens von Wilhelm Lütgert veröffentlichte er das Werk nicht; es erschien erst 1987. Hintergrund war die Eskalation des Ersten Weltkriegs, dem schon 1914 sein Sohn Paul zum Opfer fiel. Tief betrübt schrieb er: „… Einsamkeit, Kriegsdruck, …, Erinnerung an die Ungezählten … liegt lähmend auf mir … Die Zukunft liegt im Dunkel … Bei mir ists Herbst …“2 Zugleich hielt er fest: „Wir werden geleitet … von der gnädigen Hand des guten Hirten …“3
Nach Kriegsbeginn konzentrierte sich Schlatter in der Lehre ganz auf die Exegese des Neuen Testaments. Sein Ziel war eine strenge Textbeobachtung, die Historie und Pneumatologie zusammendenkt. Faszinierend war, dass bei ihm die Exegese nicht nur Philologie, sondern Theologie war – verbunden mit seelsorgerlicher Fürsorge für Studierende (Sprechstunden, „Offene Abende“).
Die Entwicklung der Systematik der Zwischenkriegszeit prägte die Dialektische Theologie. Schlatter teilte manche ihrer Kritiken (z. B. am Anthropozentrismus), sah aber auch bedenkliche Reduktionen (Schöpfung, Natur, Geschichte; Verkürzung des Schriftzeugnisses; Loslösung des Glaubens von der Vernunft).
1930 – im 78. Lebensjahr – beendete Schlatter nach über 100 Semestern seine akademische Lehre. Die verbleibende Zeit nutzte er für die neun Bände der Erläuterungen zum Neuen Testament – die „Ernte“ seiner lebenslangen Exegese.
Das Aufkommen des Nationalsozialismus verfolgte er mit großer Sorge. Schon 1931 meinte er, die Kirche habe vom Nationalsozialismus „im besten Falle wohlwollende Toleranz zu erwarten“5; 1933 sah er einen „Weg schweren Leidens“ voraus.6 Er lehnte Rassenideologie und Rassegesetze sowie das Euthanasieprogramm ab. Sein letztes großes Werk, das Andachtsbuch Kennen wir Jesus?, entstand aus Sorge um den Weg des Volkes.
Als Schlatter 1938 starb, würdigten viele ihn nicht nur als „Lehrer der Kirche“, sondern als „Vater in Christo“. Friedrich von Bodelschwingh d. J. sagte: „… ein Führer zu Christus … Wir nehmen von diesem Grab den Auftrag mit, dafür zu sorgen, dass das, was Adolf Schlatter der Kirche zu sagen hatte, zu neuer Fruchtbarkeit und bleibender Wirkung kommt.“7