Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung

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Konkrete Ethik als Ziel der Theologie

Nach Adolf Schlatters Überzeugung war die Ethik die „ans Ziel gelangte Theologie.“1 An der Ethik lässt sich demnach feststellen, ob eine Theologie das von der biblischen Offenbarung vorgegebene Ziel erreicht hat oder nicht. Für ­Schlatter war es daher von der Sache her durchaus begründet, wenn „die Wahrheit des Christentums immer, vielleicht überwiegend an seiner Ethik gemessen ­wurde.“2 Mission und Evangelisation können deshalb nur gelingen, wenn Theologie und Kirche zu einer „tüchtigen Ethik“ gelangen.3 Diese Einsicht hat Schlatters gesamtes theologisches Schaffen bestimmt.

Seine 1914 erschienene „Ethik“ hat bis in neuere Zeit immer wieder durch ihre (im Vergleich mit den damaligen ethischen Entwürfen) ungewöhnliche Konkretheit und Lebensnähe Staunen erregt: Ähnlich wie in der Dogmatik war Schlatter auch in seiner Ethik darum bemüht, biblische Erkenntnis mit einer möglichst unbefangenen Wahrnehmung des Wirklichen zu verbinden. Eine christliche Ethik kann sich nach Schlatter nicht darauf beschränken, den Inhalt des Ethos unter Absehung der je konkreten geschichtlichen Situation zu beschreiben oder gar das Sittliche bloß formal zu bestimmen. Als „eine der Gegenwart zugewandte Wissenschaft“ hat sie danach zu fragen, „wie wir in unserer Lage den uns geltenden göttlichen Willen erfüllen.“4 Dies bedeutete für Schlatter allerdings keine Preisgabe allgemeingültiger ethischer Normen, wie sie biblisch durch die „Gebote Gottes“ und anthropologisch durch das konstante geschöpfliche Wesen des Menschen begründet sind. Schlatters ausgeprägte Schöpfungstheologie hat ihn davor bewahrt, die notwendige Konkretheit christlicher Ethik im Sinne eines situationsethischen Relativismus aufzulösen: So sehr er die Geschichtlichkeit des Ethos und die sittliche Freiheit des ­Menschen betonen konnte, so nachdrücklich hielt er daran fest, dass mit der Schöpfung auch „Schöpfungsordnungen“ bzw. ein (auf Gerechtigkeit und Liebe zielendes) Sittengesetz als „Äußerung des Schöpferwillens“ gegeben sind, durch welche die menschliche Freiheit begrenzt ist.5 Seine Betonung der Schöpfungstheologie veranlasste ihn, (im Gegensatz zu den meisten evangelischen Ethikern des 20. Jahrhunderts!) auch die Existenz eines alle positive Rechtsordnung be­grenzenden Naturrechtes zu bejahen.

Andererseits hat dieses stark ausgeprägte Schöpfungsethos Schlatter nicht dazu verführt, die materiale Besonderheit christlicher Ethik in Abrede zu stellen. Seine Ethik geht zwar methodisch von einer Analyse der Wirklichkeit aus, sie beleuchtet diese Analyse aber im Lichte der Christusoffenbarung und des apostolischen Zeugnisses, indem sie auf Schritt und Tritt zahlreiche neutestamentliche Stellen heranzieht. So kommen in seiner Ethik Empirie und Bibel, Natur und Gnade, Schöpfung und Erlösung gleichermaßen zur Geltung. Und Schlatter hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die christliche Ethik als zutiefst christozentrische und pneumatische Liebesethik zu verstehen ist, bei der das Sittliche ganz in der Gabe der Erlösung gründet.6

Es versteht sich von selbst, dass Schlatters Ethik auf viele Fragen, die uns heute bedrängen, noch keine Antwort gibt. Vorbildlich aber auch für eine Ethik des 21. Jahrhunderts bleibt seine Verbindung von unbefangener Wahrnehmung des Wirklichen und biblischer Erkenntnis, zeigt sie doch, dass die Anerkennung der Heiligen Schrift als normierender Instanz die nüchterne Analyse der Realität nicht zu beeinträchtigen braucht, sondern sogar zu fördern vermag.

1

J. T. Becks theologische Arbeit. Rede in der Aula der Universität Tübingen (22.2.1904), 28, in: BFChTh 8 (1904) H. 3, 25–46.

2

Die christliche Ethik, Stuttgart 41984, 44.

3

Ebd. 43

4

Ebd. 36.

5

Vgl. W. Neuer, Schöpfung und Gesetz bei Adolf Schlatter, in: H. Burkhardt (Hg.), Begründung ethischer Normen, Wuppertal 1988, 115–130.

6

Eine genauere Analyse von Schlatters Ethik findet sich in: W. Neuer, Der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik bei Adolf Schlatter. Eine Untersuchung zur Grundlegung christlicher Ethik, Gießen/Basel 1986.

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