Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung
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Dogmatik als biblisch-empirische Theologie
Schlatters Dogmatik wurde von seinen Zeitgenossen als außerordentlich modern empfunden, obwohl sie in ihren Ergebnissen zweifellos „biblisch“ und insofern „konservativ“ war. Methodisch war sie aber ein ausgesprochen kühnes Unternehmen, da Schlatter seinen schon in Bern entwickelten Ansatz einer „beobachtenden“ (bzw. „empirischen“) Theologie der Tatsachen umfassend zu entfalten suchte. Diesem Ansatz zufolge hat die Theologie – wie jede andere Wissenschaft auch – die Aufgabe, ihren Wahrheitsanspruch nicht einfach durch bloße Postulate oder dogmatische Setzungen zu behaupten, sondern in den „Tatsachen“ der Heilsgeschichte und der Schöpfung zu begründen: Schlatter war zutiefst davon überzeugt, dass sich die Wahrheit der Schrift auch in der beobachtbaren Wirklichkeit bestätigt und deshalb nicht bloß behauptet oder gar postuliert werden muss.1 Das theologische Recht zu seinem Vorgehen sah Schlatter (im Anschluss an Röm 1,19f; 2,14f und die in der traditionellen Theologie entwickelte Lehre von der revelatio generalis) darin begründet, dass Gottes Offenbarung sich nicht auf Wort und Werk Jesu beschränken lässt, sondern letztlich „alles Seiende“ umfasst. Hinzu kam für ihn die Überzeugung, dass die Dogmatik nicht nur (im Sinne einer exklusiven theologia regenitorum) als Dienst an den bereits Glaubenden verstanden werden darf, sondern auch den Nichtchristen verpflichtet ist. Die Liebe zu den Nichtglaubenden aber gebietet es seiner Ansicht nach, die christliche Wahrheit so plausibel wie nur möglich als adäquate Deutung des Wirklichen aufzuzeigen. Das Ergebnis von Schlatters eigenwilliger Konzeption war für die einen faszinierend, für die anderen zum Teil aber auch irritierend: So befremdete es selbst ihm nahestehende Theologen, dass er in seiner Dogmatik bemüht war, nicht nur die empirische Verankerung der christlichen Wahrheit, sondern auch die Notwendigkeit Gottes für das Denken und Leben des Menschen aufzuzeigen. Schlatter scheute sich nicht, in diesem Zusammenhang sogar auf die im deutschen Protestantismus seit Kant längst verabschiedete Tradition der Gottesbeweise zurückzugreifen. Schlatter war zutiefst davon überzeugt, dass es in der Konsequenz der biblischen Botschaft liegt, dass die geschöpfliche Wirklichkeit ohne Gott nicht hinreichend verstanden werden kann und dass die Leugnung Gottes im Leben der Menschen zerstörerische Folgen hat und in letzter Konsequenz sogar Wahrheit und Humanität gefährdet!
Wie man auch manche Einzelheiten von Schlatters Dogmatik beurteilen mag, sie bleibt ein bemerkenswerter Versuch einer dialogischen Theologie, die nicht nur die Vergewisserung der bereits Glaubenden zum Ziel hat, sondern in das Gespräch mit den nichtchristlichen Zeitgenossen eintritt und diese vom Realitäts- und Wahrheitsgehalt der biblischen Botschaft zu überzeugen sucht.
Vgl. die Argumentation Schlatters in der unveröffentlichten Vorlesung Wesen und Quellen der Gotteserkenntnis 52f. (Adolf-Schlatter-Archiv Nr. 191): „Wie sollen wir dessen gewiss werden, dass das in der Schrift gezeichnete Bild vom Menschen wahr ist? Eben dadurch, dass wir den Menschen, wie er faktisch leibt u. lebt, neben dasselbe stellen u. so die Kongruenz beider wahrnehmen. Dasselbe gilt vom Gottesbild der Schrift“ (Hervorhebung W.N.). Ich verdanke den Hinweis auf dieses Zitat meinem über Schlatters Schriftverständnis arbeitenden Freund Clemens Hägele (Unna).