Adolf Schlatter: Leben, Werk, Wirkung
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Privatdozent in Bern (1880–1888)
Schlatter wäre wohl Pfarrer geblieben, wenn ihn nicht im Jahre 1880 pietistische Kreise in Bern darum gebeten hätten, sich an der Berner theologischen Fakultät als Privatdozent zu habilitieren, um gegenüber den dort herrschenden theologischen Strömungen (dem Liberalismus und der Vermittlungstheologie) eine schriftgebundene Theologie zu vertreten. Obwohl die Aufgabe seines Pfarramts für Schlatter ein großes Opfer bedeutete, sagte er zu. Trotz erheblicher Widerstände an der Fakultät gelang es ihm, sich auf ordentlichem Wege zu habilitieren und im Januar 1881 mit der akademischen Lehrtätigkeit zu beginnen.
Der Anfang seiner wissenschaftlichen Arbeit war für Schlatter nicht gerade leicht: Bei seinen liberalen Kollegen stieß er wegen seines „Bibelglaubens“ auf unverhohlene Distanz, bei einem Teil des ihn berufenen Kreises dagegen erregte seine vermeintlich mangelnde Bibeltreue Misstrauen. Schlatter suchte das Misstrauen beider Seiten durch das Bemühen zu entkräften, eine möglichst unvoreingenommene wissenschaftliche Schriftauslegung, die „nichts als den wahrheitstreuen Vollzug der Beobachtung“ begehrte,1 mit einer glaubhaften Beugung unter die Autorität der Heiligen Schrift zu verbinden – ein Bemühen, das seine theologische Arbeit für immer kennzeichnen sollte.
Die Themen von Schlatters Berner Vorlesungen umfassten eine ungewöhnliche Vielfalt: Neben alt- und neutestamentlichen Kollegs bot Schlatter kirchenhistorische, systematische und philosophische Vorlesungen an. Mit dieser thematischen Weite legte er den Grundstein für die Breite seiner späteren akademischen Lehrtätigkeit, die ihn nicht nicht nur als Neutestamentler (in Greifswald und Tübingen), sondern auch als Systematiker (in Berlin) in Anspruch nehmen sollte. In seinen Berner Vorlesungen nahm Schlatter die Gelegenheit wahr, jenes Konzept einer „beobachtenden“ („empirischen“) Theologie zu entfalten, das er bereits in seiner Antrittsvorlesung programmatisch vorgestellt hatte: eine Theologie, die in ihren historischen wie in ihren systematischen Disziplinen ganz auf der Beobachtung der erfahrbaren Wirklichkeit basiert, in der sich Gottes Offenbarung (als Geschichte oder Schöpfung) ereignet. Inhaltlich ging es Schlatter – wie der zeitgenössischen konservativ-kirchlichen „positiven“ Theologie – um eine glaubhafte Alternative zum sich von Schrift und Bekenntnis distanzierenden theologischen Liberalismus, welche aber zugleich gewisse Engführungen der damaligen positiven Theologie zu vermeiden suchte. Er sah in der liberalen Theologie Tendenzen am Werk, welche nicht nur die kirchliche Tradition, sondern die biblische Lehre erheblich verkürzten, ja teilweise sogar das neutestamentliche Christuszeugnis preisgaben und damit letztlich auf eine Zerstörung der Kirche hinausliefen. Demgegenüber wollte Schlatter für eine vom Evangelium erneuerte Theologie arbeiten, die christozentrisch, biblisch fundiert und kirchlich verantwortet war. In diesem dreifachen Ziel wusste er sich mit jenen Kreisen des Berner Pietismus verbunden, die ihn zu der Habilitation veranlasst hatten.
Im Jahre 1885 veröffentlichte Schlatter seine preisgekrönte monographische Studie „Der Glaube im Neuen Testament“. Durch dieses Erstlingswerk, dem auch kritische Rezensenten bahnbrechenden Charakter zuerkannten, wurde Schlatter mit einem Schlag in der wissenschaftlichen Welt bekannt. In den folgenden Jahren bemühten sich mehrere Universitäten darum, Schlatter als Dozenten zu gewinnen. Um seine Arbeitsbedingungen und kirchlichen Einflussmöglichkeiten zu verbessern, nahm Schlatter im Jahre 1888 einen Ruf der Greifswalder Fakultät an.
Ebd. 83.